☆☆ Dritter Bericht von Anna Götz, elfte Stipendiatin der Grünwald Stiftung ☆☆
Wenn man an Japan denkt, kommen einem meist hoch technologisierte Millionenstädte in den Sinn. Japan ist zwar auf Platz elf der bevölkerungsreichsten Länder und Tokio-Yokohama ist die größte Metropolregion der Welt, aber es hat wesentlich mehr zu bieten als nur viele Menschen und riesige Städte. Es sind nur etwas zwanzig Prozent der Landfläche bebaut. Der Rest birgt atemberaubende Landschaften. Japans Natur ist dabei ungemein facettenreich. Man findet von hohen Bergen mit Skigebieten über Vulkane, Nationalparks, dichte Wälder, heiße Quellen und paradiesische Strände nahezu alles. Ebenso abwechslungsreich ist auch die Flora und Fauna aufgrund der Landesausdehnung über mehrere Klimazonen.
Diese Vielfalt ist mir zunehmend bei Besuchen von Kobe aufgefallen. Kobe wird im Norden vom Rokkō-Gebirge und im Süden vom Meer begrenzt. Die Stadt bietet also sowohl Sandstrände als auch wunderbare Wanderwege. Ich kann den Besuch des direkt mit dem Zug erreichbaren Strandes, des auf dem Rokkōsan angelegten Kräuter- und Blumengartens und die nächtliche Aussicht vom Rokkōsan auf Kobe und Osaka, die auch als „10-Millionen-Dollar-Aussicht“ bekannt ist – die monatlichen Ausgaben für die unzähligen zu sehenden Lichter werden auf diesen Preis geschätzt – nur empfehlen.
Der Facettenreichtum der japanischen Natur ist mir aber erst so richtig bewusst geworden, als ich das erste Mal die Kansai-Region verlassen habe. So durfte ich drei Tage mit Herrn und Frau Okamoto bei den Eltern von Frau Okamoto in Toyama verbringen. Schon während der Autofahrt nach Toyama konnte ich beobachten, wie die Berge immer höher wurden und sich ihre sehr dichte Bewaldung veränderte. Einen Kontrast dazu bildete ein Zwischenstopp an der etwa dreißig Meter hohen, aus vulkanischem Gestein bestehenden Steilküste Tōjinbō. Zu unserem Glück waren dort noch einige der großen Krebse von der Hauptsaison übrig, sodass Herr Okamoto drei für das Abendessen kaufen konnte. Alles andere als günstig, aber super lecker!
Mehr von den Bergen konnte ich auch am nächsten Tag sehen, als wir einen Ausflug in das UNESCO-Weltkulturerbe-Dorf Shirakawagō machten, welches in den Japanischen Alpen liegt und früher Zufluchtsort für Verfolgte und Besiegte war. Dort gibt es im Winter schwere Schneefälle, weswegen die Häuser im so genannten Gasshō-zukuri (deut.: Stil der zum Gebet gefalteten Hände) gebaut werden. Bei diesem Baustil sind die strohgedeckten Dächer bis zu 60° steil und gehen fast bis zum Boden, sodass sie den Schneefällen standhalten können und den Schnee heruntergleiten lassen, wobei sie zum Gebet gefalteten Händen ähneln. Erwähnenswert ist auch noch der Zwischenstopp in der Küstenstadt Kanazawa am nächsten Tag auf unserem Rückweg nach Osaka, bei dem wir die Rekonstruktion der Burg Kanazawas besichtigten.
Aber nicht nur auf dem Ausflug nach Toyama konnte mich die japanische Natur verzaubern. Auch während meinem Aufenthalt auf dem Kōyasan, einem zum UNESCO-Weltkulturerben ernannten Berg, war ich hin und weg von ihr. Kōbō Daishi wählte 817 den Kōyasan als Zentrum seiner buddhistischen Shingon-Schule, da er fern von aller weltlichen Ablenkung und Einfluss liegt und umgeben von acht Bergen an eine Lotusblüte erinnernd eine spirituelle und mystische Atmosphäre verströmt. Im Grunde genommen kann man den Kōyasan als große Tempelanlage verstehen. Er bildet genauso wie die vielen kleinen Tempelanlagen in den Großstädten auch heute noch einen Oase der Ruhe, Besinnlichkeit und Friedlichkeit.
Es war mir aber nicht nur möglich den Kōyasan zu besuchen, ich hatte sogar auch noch das Glück in einem der vielen Tempel auf ihm übernachten zu können, mit den Mönchen zusammen in einer Yukata über die alten Holzgänge zu huschen und mich für einen Tag im Sinne der Shōjin Ryōri, der vegetarischen, mit dem Mönchskodex übereinstimmenden Küche zu ernähren. Das Highlight meines Aufenthalts bildete aber definitiv die Morgenzeremonie, die um sechs Uhr morgens – nach meiner ersten erstaunlich bequemen und erholsamen Nacht auf einem Futon in einem klassisch japanischem Zimmer mit Tatami-Matten – begann. Nicht vergessen werde ich auch Jiro, der seinen Job gekündigt hat, seit drei Tagen als Mönch auf dem Kōyasan lebte und mich leicht verunsichert fragte, ob ich denke, dass man an einem derart ruhigen Ort auf Dauer leben kann.
Auf dem Kōyasan konnte ich wie auch schon einige Male zuvor den Synkretismus von Buddhismus und Shintō beobachten. So gibt es nämlich auf dem eindeutig buddhistisch geprägten Berg auch shintōistische Schreine. Im Gegensatz zu Deutschland ist es in Japan üblich mehreren Religionen gleichzeitig anzugehören. So hat der Shintōismus rund 107 Millionen, der Buddhismus 91 Millionen und das Christentum nur 1,2 Millionen Anhänger bei einer Gesamtbevölkerung von gerade mal 127 Millionen. In Japan muss man sich also nicht für eine Religion exklusiv entscheiden. Gibt einem die eine Religion nicht was man braucht, holt man es sich einfach von einer anderen. Dabei wird jedes Fest meist von den Traditionen einer Religion bestimmt. Beerdigungen und das Gedenken an den Verstorben sind buddhistisch geprägt. Hochzeiten und das Bitten für Glück oder die Erfüllung von Wünschen – sei es beispielsweise zu Silvester oder vor einer Prüfung – werden hingegen vom Shintōismus bestimmt. Es zeigt sich allerdings immer mehr ein Trend dazu im Sinne der christlichen Traditionen zu heiraten und dies später shintōistisch bestätigen zu lassen. Dies hat aber keineswegs etwas mit religiösen Überzeugungen zu tun, sondern ist so beliebt aufgrund der damit einhergehenden Hollywood-Romantik und der Möglichkeit nicht nur die engsten Familienangehörigen einladen zu können wie bei der Shintō-Hochzeit üblich. Der Priester ist deshalb auch nur selten ein echter Geistlicher und geheiratet wird meist nicht in einer Kirche, sondern in einer nachgebauten Hochzeitshalle in einem großen Hotel.
Während meinem Aufenthalt in Japan konnte ich aber nicht nur immer wieder Hochzeitsfeiern beobachten. Es war mir auch möglich einem Danjiri matsuri (deut.: Fest mit tragbarem Schrein) beizuwohnen, bei dem nach kurzen Fürbitten aufwendig verzierte Wägen in Form von Schreinen – man glaubt, dass in ihnen Götter wohnen – unter Getrommel und “Yoi, sa! Yoi, sa!” durch die Straßen gezogen werden. Dabei hat jeder Bezirk seinen eigenen Wagen und versucht die anderen Bezirke zu übertrumpfen. Eine sehr spaßige Angelegenheit!
Das Kodomo no hi (deut.: Kinderfest) fiel ebenfalls in den Zeitraum meines Aufenthalts. Eine Freundin lud mich am Vortag des Festes in ihren Tempel ein, zeigte mir die Vorbereitungen für das Fest und erklärte mir die Traditionen dahinter. Im Grunde genommen geht es darum für das Glück und die Gesundheit der Kinder zu bitten, ihre Stärke zu würdigen und sie zu feiern.
Im Allgemeinen werden jeden Monat regionale und nationale Feste gefeiert. Eine besondere Anhäufung von nationalen Feiertagen bildet dabei die Golden Week, in der auch das Kodomo no hi stattfand. In dieser Woche ist alles überfüllt – von den Verkehrsmitteln, über die Einkaufszentren, Hotels und Sehenswürdigkeiten. Gott sei Dank ist die Golden Week, wenn mich meine Familie nächste Woche besuchen wird und wir etwas herumreisen möchten, schon lange wieder vorbei. Ich freue mich nämlich bereits riesig meiner Familie Japan wie ich es in den letzten beiden Monaten kennen und lieben gelernt habe zu zeigen, aber auch durch ihre Augen Japan nochmals neu zu entdecken!